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Jugendliche authentisch begleiten – Teil 1 Konflikte regeln

In der Mitte des Kreises ist ein Problem, außen herum sitzen 21 Jugendliche und starren es an. Ihnen wurde eine Aufgabe gestellt, die es zu lösen gilt. In der Mitte liegt etwas, das begehrt wird. Jede/r möchte es haben! Die beiden lautesten Alphatiere brüllen sich Gehör und schon schalten die Leisen, Zarten ab und ihre Blicke sinken zu Boden. Sie wollen weder gesehen noch gehört werden. Zuspruch bekommen die Anführer jetzt von einer Gruppe Mitläufer, die quasi den Dominanten ihre Stimme geben. Die Stimmung kippt: Aus der Lautstärke wird Aggression, es fallen Beleidigungen.

Und ich? Bin mitten drin als Beobachterin. Ich lasse es geschehen, beobachte die Dynamik und lerne zu verstehen, was sich in den letzen Wochen sozial-emotional in der Gruppe, also meiner Klasse, alles entwickelt und aufgetaut hat. Ich erkenne die Zusammenhänge, warum immer wieder massive Störungen den Unterricht in allen Fächern unterbrechen und wie die „Alphas“ darum kämpfen, jeder für sich der Stärkere zu sein. In dieser Gruppe sind die Anführer männlich, aus schwierigen familiären Verhältnissen, leben im Jugendhilfssystem und einer der „Leader“ ist sogar vorbestraft. Geführt wird hier durch Einschüchterung! Es gibt eine klare Hierarchie in der Klasse. Wenn einer der Alphas nicht da ist, nimmt ein nächster seinen Platz ein. Es sind bei 21 Jugendlichen 3 Personen, die sich immer wieder diesen Platz streitig machen. Also ist es für mich als Lehrkraft und Begleiterin nicht gerade leicht, diese Dynamik umzuleiten, auszugleichen oder die jungen Männer „in den Griff zu bekommen“. Mit jedem Einzelnen habe ich eine gute soziale Ebene im Einzelgespräch. Wir mögen uns und reden wir unter 4 Augen, ist jeder einsichtig und um konstruktive Lösungen bemüht. Allerdings fallen sie sehr häufig in alte Muster. Sie sind gefangen in ihrer Rolle, dass sie diese ohne langfristige, vielleicht sogar therapeutische Begleitung, sicherlich nur schwer los lassen können.

Deshalb verlagere ich meinen Fokus von den „Schwierigen“, den „Störern“ auf den Rest der Gruppe. Dieser „Rest“ ist eigentlich die absolute Mehrheit! Hier möchte ich nochmals betonen, dass ich den Menschen ganzheitlich betrachte und nicht kategorisiere. Niemand ist „schlecht“ oder stört nur, meiner pädagogischen Haltung nach! Deshalb setzte ich diese Bezeichnungen bewusst in Anführungszeichen.

Zurück zur Frage: Wie stärke ich die Gruppenmitglieder, die sich nicht trauen, an Prozessen präsent und aktiv teilzunehmen?

1. Bewusstwerdung der Rolle

Durch Fragen, die auch offen bleiben können, öffne ich einen Raum für die Menschen, die sich nicht offen beteiligt haben. 

Wie fühle ich mich, wenn Konflikte hierarchisch gelöst werden, wenn der Lauteste die meisten Stimmen bekommt? Warum halte ich mich zurück oder raus? Welche Konsequenzen hätte meine Beteiligung, welche Auswirkungen auf mich oder auf die Anderen? Wo zeigt sich diese Verhaltensweise noch in meinem Leben außerhalb der Schule? Bin ich zufrieden damit?

2. Wertigkeit der eigenen Stimme

In Rollenspielen finden wir heraus, dass manchmal ein Perspektivwechsel einen neuen Raum für Entfaltung öffnet. Meine eine Stimme kann einen Unterschied machen, zum Beispiel bei einem Mehrheitsbeschluss. Mein eigenes Wissen, meine eigene Persönlichkeit kann dazu beitragen, dass ich als Expertin / Experte gesehen werde und somit Meinungen und dadurch Entscheidungen beeinflussen kann.

3. Reflexion

Immer wieder sprechen wir nach konfliktreichen Situationen darüber, wie sich wer verhalten hat und wo meine eigene Postion dabei war. Die Fragen, was ich selbst hätte ändern oder beitragen können, ermöglichen dem Einzelnen neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und vielleicht bei gegebener Zeit auszuprobieren.

4. Teilnahme und Stärkung durch Demokratische Konfliktregelung

Die 4 Schritte zur Demokratischen Konfliktregelung geben den Schüler:innen einen Leitfaden und somit einen Rahmen, in dem sie geschützt durch die Vereinbarung, diese Schritte einzuhalten, sich selbst ausprobieren und einbringen können. Sie lernen somit ein Modell der friedlichen und demokratischen Konfliktregelung, dass sie auch auf ihr gesamtes Leben anwenden können. Auch uns selbst, als Lehrkräfte oder Erziehungsberechtigte, geben diese Schritte Halt, in schwierigen Situationen.

Welche 4 Schritte helfen uns, einen Konflikt demokratisch und friedlich zu lösen?

Schritt 1: Wir treten in Kontakt miteinander und lassen uns kommunikativ aufeinander ein. Wir finden so heraus, was jede/r Einzelne WIRKLICH will oder braucht.

Schritt 2: Wir lassen uns auf Basis dieser Grundlage darauf ein, kreative Lösungen zu finden, welche die eigenen Bedürfnisse und die der Gruppe erfüllen.

Schritt 3: Sollte dies nicht möglich sein, versuchen wir einen Kompromiss zu finden.

Schritt 4: Wenn wir zu keiner Einigung finden wird abgestimmt und es gilt der Mehrheitsbeschluss

Je nach Komplexität des Themas und natürlich auch je nachdem welche Emotionen damit verknüpft sind, kann eine Einigung schon nach Schritt 1 oder 2 gefunden werden. Der Gruppe an sich sollte immer wieder klar werden, dass sich Jede/r hier einbringen muss, um langfristig friedlich und demokratisch zu handeln. Dabei ist der Aspekt, dass ich gegen mich selbst handele, wenn ich mich immer „klein mache“ und „raus ziehe“, weil ich mein Recht auf Beteiligung nicht wahrnehme. Immer wieder spricht die begleitende Lehrkraft oder der Erziehungsberechtigte eine EINLADUNG aus an die/den Jugendlichen, sich einzubringen. Niemand wird gezwungen, denn innere Prozesse brauchen ihre individuelle Zeit, die von Außen nicht sichtbar ist.

Alltagsbezug

Wenn wir im Bildungssystem oder auch Zuhause als Erziehungsberechtigte immer wieder Entscheidungen über den Kopf der / des Jugendlichen treffen, verhindern wir die Entwicklung von friedlicher, demokratischer Lösungskompetenz. Immer wieder gibt es kleine, alltägliche Situationen, an denen wir diese Schritte üben können. Geht es um Planung von Aktivitäten, Ausflügen oder Urlauben? Wie sollte die Aufgabenverteilung in der Familie sein? Welche Regelungen werden für den Medienkonsum aufgestellt? Wann sind Ruhezeiten oder wann werden die Hausaufgaben erledigt? Welche Anschaffung wird getätigt? Jede konfliktreiche Frage könnte mit den 4 Schritten der Demokratischen Konfliktlösung erörtert werden. Es könnte eine friedliche Lösung gefunden werden, mit der sich alle Beteiligten identifizieren oder zumindest abfinden könnten für den Moment, für das HIER und JETZT.

  • Auf diese Weise haben wir in der Klasse eine neue Sitzordnung vereinbart und auch die Tische und Stühle neu aufgestellt, um mehr Ruhe und Entlastung zu schaffen. Die Entscheidung fiel durch einen Mehrheitsbeschluss.
  • Zuhause haben meine 3 Kinder, mein Partner und ich zusammen über die Freizeitgestaltung verhandelt, da jeder meiner Söhne der Meinung wahr, seine Vorstellung der Aktivitäten müssten alle teilen. Die Entscheidung fiel hier durch einen Kompromiss.

Natürlich ist eine Entscheidung / Lösung nicht immer vollkommen zufriedenstellend oder ideal und auch nicht für Alle gleich passend. Deshalb vereinbaren wir, dass die gemeinsame ENTSCHEIDUNG nach einem gewissen Zeitraum reflektiert wird und dann auch ein neuer Prozess initiiert werden kann.

GEMEINSAMES, friedliches und demokratisches Leben in einer Gemeinschaft ist lebendig, verändert sich und ist im Fluß.

Wenn wir strake Jugendliche und junge Erwachsene wollen, die ihrer Verantwortung in unserer Gesellschaft gerecht werden, dann ist es wichtig, dass sie den Freiraum bekommen, dies zu üben. 

Geduld

Vertrauen

Gegenseitiger Respekt – das sind dabei Säulen, die uns ALLE tragen.

Herzlichst, 

Kirsten Brandt

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