Vom Raum halten für Groß und Klein
KLEIN
Du bist gerade in der ersten Klasse. Letztes Jahr hast du mitten in einer Pandemie einen großen Umzug gemacht, hast kurz vorm Ende den Kindergarten gewechselt und bist mit dir ganz unbekannten Kindern eingeschult worden.
Viele Ängste und Fragen hattest du.
Du hast Halt gesucht bei deiner Mama, die deine einzige, konstante Bezugsperson ist deinem Leben ist.
Du gehst gerne in die Schule und hast neue Freunde gefunden. Jeden Abend stimmen wir uns nach einem vollen Alltag zusammen ein, hören ein Mantra und atmen tief zusammen. Dann erzählst du, was dir auf dem Herzen liegt.
Ich bin da.
Ich atme.
Ich höre dir zu.
Ich gestalte einen Raum, in dem du dich sicher und geborgen fühlst, nur dadurch, dass ich da bin und zuhöre.
Alle deine Gefühle dürfen sein und jeder Gedanke darf ausgesprochen werden.
Manchmal reden wir und finden eine Lösung, falls du ein Problem hast.
Aber meistens ist es so, dass du schon deine eigenen Ideen und Lösungen findest, in dem du einfach darüber redest, was dir auf der Seele liegt.
Dein Körper wird dann von sehr unruhig und zappelig mit der Zeit ganz schwer und warm.

Irgendwann bist du fest eingeschlafen – oft ich mit dazu.
Die Arbeit am Abend bleibt dann liegen.
Aber mit den Jahren und mittlerweile meinem dritten Kind weiß ich, dass dies vollkommen okay ist. Denn wenn ich einschlafe bei dir, dann brauche ich es. Es kommt ein neuer Tag. Und alles ist gut.
Jeden Mittag steigst du zur Zeit in mein Auto ein und hast neue Fragen zum Krieg. Oft wiederholst du immer die gleichen Fragen – wieder und wieder. Du willst wissen, warum es so ist, dass Menschen Krieg erleben müssen. Du sagst, du hast Angst. Ich höre dir zu. Wir kucken uns Kindernachrichten an um Gerüchten und falschen Informationen, die du irgendwo aufgeschnappt hast, richtig zu „rücken“. Ich zeige dir die Länder auf einer Karte und wir befassen uns damit, wie weit von Zuhause die Städte aus den Nachrichten weg sind. Dann überlegen wir, was wir tun können. Du sagst, du willst eine Kiste packen und Spenden an deiner Schule abgeben. Wir kommen gemeinsam ins Tun!
Wenn du ganz aufgeregt und traurig bist, frage ich dich, was du am liebsten tun möchtest, JETZT, GERADE, HEUTE – um aus dieser Spirale der Gedanken und Gefühle heraus zu kommen. Wir gehen dann zum Skatepark, tanken Sonne, werden aktiv oder zünden eine Kerze an und malen.
GROß
Du bist in meiner 8. Klasse im Deutschunterricht. Unser Thema ist gerade das Medium Zeitung. Ich hatte diese Einheit schon geplant, bevor der Krieg ausbrach. Wir bekommen unsere regionale Zeitung einen Monat umsonst in die Schule geliefert. Zur Zeit sind die Titelbilder gelb und blau, die Schlagzeilen fast jeden Tag die gleichen! Das Thema Krieg ist sehr präsent. Deine Familie ist vor 2 Generationen auch aus einem Krieg hier her gekommen. Das Thema reißt alte und neue Wunden in deiner Familie auf.
Du kommst zu mir und sagst, dass du morgens nicht als erstes die Zeitung lesen willst und dass du mit den Schlagzeilen auf der Titelseite und den Titelbildern nicht „arbeiten“ kannst. Es macht dich traurig, paralysiert dich und du kommst dann nicht mehr aus dieser Stimmung heraus.
Ich höre dir zu. Ich verstehe dich. Wir überlegen, welchen alternativen Arbeitsauftrag du für dich finden könntest. Du möchtest die Zeitung am Morgen auf gute Nachrichten untersuchen und die Titelseite überspringen. Deine liebsten Ressorts sind Kunst, Kultur und Bildung. Du konzentrierst dich in den Arbeitsaufträgen jetzt drauf. Gestern warst du ganz stolz, denn das Kunstprojekt unserer Schule (Graffiti), an dem du aktiv beteiligt warst, hat eine halbe Seite mit großem Foto in dem lokalen Teil der Zeitung bekommen. Du hast den Artikel und dich selbst auf dem Bild als Erste entdeckt.

Groß und Klein brauchen Menschen, die ihnen Raum geben so zu sein, wie sie sind. Jetzt gerade mit allen Gedanken und Gefühlen! Aktives Zuhören und das Gefühl der Gemeinschaft, ob in der Schule / Klasse oder Zuhause in der Familie oder im Freundeskreis tragen uns durch schwere Zeiten. Mein Motto in dieser Zeit wäre, sich auf Licht und Liebe zu konzentrieren. Natürlich gibt es den Schmerz, die Ängste, die Schatten und Zweifel! All´ das darf sein. Doch wenn ich selbst wähle, dann stelle ich mir in meinem Herzraum ein warmes Licht vor, das ich nähre mit meinen Gedanken. Wenn es mir schwer fällt, in der Krise gut zu begleiten, dann sehe ich das Bild des Leuchtturmes vor mir und es sendet genau das für mich aus und erinnert mich an meine Aufgabe.
Da sein.
Raum halten.
Leuchten.
Lieben.
Herzlichst,
Kirsten Brandt